Viele Bio-Landwirte haben sich gefragt: Wie konnte es überhaupt zu einem so starren und praxisfernen Weidepapier kommen – obwohl die EU-Verordnung 2018/848 doch deutlich flexibler formuliert ist?
Die Antwort: Das Problem liegt nicht in Brüssel – sondern bei uns:
Zwar wurde von der EU ein sogenanntes Pilotverfahren zur nationalen Umsetzung der Öko-Verordnung angestoßen – aber: Die konkrete Ausarbeitung des deutschen „Weidepapiers“ wurde ausschließlich von nationalen Gremien vorgenommen – allen voran:
- der Agrarministerkonferenz (AMK),
- der Länderarbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau (LÖK) und
- maßgeblich den deutschen Bio-Verbänden – insbesondere Bioland.
Diese Fachstellen formulierten eine pauschale Weideverpflichtung für alle Tiergruppen, unabhängig von regionaler Topografie, Siedlungsstruktur oder Flächenzuschnitt – ohne vorherige Einbindung betroffener Betriebe und ohne wissenschaftliche Evaluation der Folgen. Das war der Geburtsfehler.
Die Reaktion der Praxis: Die IG formiert sich
Als sich abzeichnete, dass diese starre Weidepflicht zahlreiche Biobetriebe – insbesondere in topografisch oder strukturell schwierigen Regionen – in massive Existenzprobleme bringen würde, formierte sich Widerstand aus der Praxis. Daraus entstand bereits Im Januar 2025 die IG „Kein Zwang zur Weide!“, getragen von betroffenen Bio-Betrieben, insbesondere von Milchviehhalterinnen und -halter.
Zentrale Forderung der IG von Anfang an:
- Keine Abschaffung der Weidehaltung, sondern eine differenzierte Umsetzung,
- im Sinne des Tierwohls, der regionalen Realität und der EU-Verordnung selbst.
Denn: Für eine Korrektur des fehlerhaften Weidepapiers brauchts weder eine Änderung der EU-Verordnung (die Jahre dauern würde), noch eine bürokratisch schwerfällige Härtefallregelung. Die EU-Verordnung selbst bietet bereits den notwendigen Spielraum für flexible, praxistaugliche Ausgestaltungen.
Der Protest der Betriebe: 66 Petitionen – ein starkes Signal
In einem bislang einzigartigen Schritt legten auf Initiative der IG über 65 Betriebe im Frühjahr 2024 offizielle Petitionen beim Bayerischen Landtag ein, in denen sie die untragbaren Folgen der pauschalen Weidepflicht schilderten und eine rechtssichere Modifikation forderten.
Der Erfolg:
- Alle Petitionen wurden parteienübergreifend anerkannt,
- der Landtag beauftragte das Bayerische Landwirtschaftsministerium (StMELF), die Anliegen der IG entgegen negativer Stellungnahmen nochmals zu prüfen
- die Diskussion wurde damit auf Landes- und Bundesebene deutlich belebt.
Fachliche und juristische Rückendeckung für die IG
Zwei Gutachten brachten vor wenige Wochen Klarheit und Rückenwind für unsere zentralen IG-Forderungen:
- Das Kapellmann-Gutachten, beauftragt von Naturland, analysierte die rechtliche Grundlage des Weidepapiers. Ergebnis: Die pauschale „allumfängliche“ Weidepflicht ist juristisch nicht erforderlich und lässt sich aus der EU-Verordnung nicht ableiten.
- Ein wissenschaftliches Dossier der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf bestätigte zusätzlich die Position der IG: Die aktuelle Praxis sei nicht tierwohlorientiert umsetzbar, nicht praxistauglich und ignoriere klimatische, strukturelle und betriebliche Realitäten.
Die Lösung: Das Regionale Weidekonzept der IG
Angesichts der massiven Herausforderungen, die das derzeitige Weidepapier für viele Biobetriebe bedeutet, hat die IG „Kein Zwang zur Weide!“ eine klare, praxisorientierte und rechtskonforme Alternative entwickelt: das Regionale Weidekonzept der IG. Es ist das Ergebnis monatelanger Arbeit, zahlreicher Fachgespräche, juristischer und wissenschaftlicher Beratung sowie Rückmeldungen aus der betrieblichen Realität.
Ziel des Konzepts ist es, Tierwohl, Praxistauglichkeit und Rechtssicherheit miteinander zu verbinden – im Rahmen der EU-Öko-Verordnung 2018/848, die ausdrücklich die Möglichkeit zu nationalen, differenzierten Umsetzungen vorsieht.
Das Regionale Weidekonzept der IG ruht auf fünf tragenden Säulen:
1. Flexible Weidepflicht für mindestens eine Tiergruppe
Jeder Biobetrieb muss künftig mindestens eine Tiergruppe – zum Beispiel Jungrinder, laktierende Kühe oder Ammenkühe mit Kälbern – auf die Weide führen. Entscheidend ist: Die Umsetzung muss realistisch, sicher und tiergerecht sein. Es geht nicht um Pauschalität, sondern um verbindliche, aber machbare Lösungen, abgestimmt auf den jeweiligen Betrieb.
2. Zertifizierte Alternativen zur Vollweide werden anerkannt
Wo Vollweidehaltung aus strukturellen oder sicherheitsrelevanten Gründen nicht umsetzbar ist, sollen nachweislich tiergerechte Alternativen wie Ausläufe, Stall-Hybridlösungen oder Ganzjahreslaufställe anerkannt werden – sofern sie die Kriterien des Tierschutzes erfüllen und dokumentiert werden.
3. Klimaanpassung wird berücksichtigt
In Zeiten zunehmender Wetterextreme ist ein starrer Weidekalender realitätsfern. Das Konzept sieht eine klimaangepasste Planung vor, die auf aktuelle Vegetationsbedingungen reagiert – statt an starren Zeitfenstern festzuhalten.
4. Regionale und betriebliche Realitäten sind Grundlage
Statt zentraler Einheitsvorgaben berücksichtigt das IG-Konzept topografische, infrastrukturelle und agrarstrukturelle Bedingungen – wie etwa Hoflage, Flächenverfügbarkeit oder Zersiedelung. Damit wird die besondere Situation vieler Familienbetriebe in Bayern und Süddeutschland einbezogen.
5. Biodiversität wird geschützt – Fehlbelastung vermieden
Weidehaltung kann ein Gewinn für die Artenvielfalt sein – wenn sie standortgerecht erfolgt. Das Regionale Weidekonzept fördert artenreiche Lebensräume und schützt gleichzeitig empfindliche Ökosysteme vor Fehlbelastung durch einen schematischen Weidezwang.Diese beiden Erkenntnisquellen – zusammen mit den praktischen Erfahrungen der IG – bildeten die Grundlage für unser „Regionales Weidekonzept der IG“, das auch von Naturland und dem BBV so gesehen wird. Es darf abgewartet werden, ob nun auch Bioland seinen Widerstand gegen die eigenen Bauern aufgibt.
Nächster Schritt muss ein modifiziertes Weidepapier sein, dass sich klar zur Weide bekennt und mindestens einer Tiergruppe Weidezugang ermöglicht.
Anschließend wird ein zustimmender Beschluss der Agrarministerkonferenz (AMK) zur nationalen Umsetzung erforderlich, damit das BMEL (Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat) dieses neue Weidepapier der EU vorlegen kann.
Die IG geht davon aus, dass die in der AMK für uns in Bayern zuständige Landwirtschaftsministerin Kaniber und auch der für Baden-Württemberg gewählte Landwirtschaftsminister Hauk und Vorsitzender der AMK ihre Zustimmungen nicht verweigern.
Vorschau auf Teil 3:
Im 3. und letzten Teil bekommt Ihr Antworten auf folgende Fragen:
• Was hat die IG an Pressearbeit geleistet?
• Wo und warum gab es öffentlichkeitswirksame Mahnwachen?
• Wie kam es zum spektakulären Trauermarsch vom Landtag über die Maximilianstrasse hin zum
Landwirtschaftsministerium mitten durch München?
• Wie groß ist unsere Enttäuschung über das (unrühmliche) Verhalten des StMELF und unserer
Landwirtschaftsministerin Kaniber?
• Und was bleibt von den großen Versprechungen aus dem Zukunftsvertrag der Bayerischen
Staatsregierung und der Landwirtschaft?
• Können wir darauf noch vertrauen?
→ Mehr dazu in Teil 3: „Verantwortung, Vernunft – und wer sie vermissen lässt“
Quelle: IG „Kein Zwang zur Weide!“
Bildquelle: Moderner Landwirt-Archiv
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